Der Graf hat alle seine Gäste zu
einem gemeinsamen Abendessen eingeladen. Die grosse Halle ist zum
Bersten gefüllt mit Menschen. Von der erhöhten Tribüne
im hinteren Teil, auf der die Tafeln des Grafen und der Gäste
steht, blickt man auf die Köpfe von Soldaten, Dienern, Knechten,
Mägden und anderen Gefolgsleuten des Grafen, die alle gemeinsam
ihr Abendmahl einnehmen.
Den Ehrenplatz an der rechten Seite des Grafen
nimmt heute ein Neuankömmling ein: Morten Essansor. Der Graf hat ihn als Baumeister aus Narsaria vorgestellt
und will offensichtlich diese Gelegenheit nutzen, ihn in Llannaid
einzuführen. Dementsprechend sind auch einige der wichtigsten
Bewohner der Stadt eingeladen worden.
Natürlich ist Bergen ap
Llannaid anwesend, der Onkel des Grafen.
Tief über seinen Teller gebeugt stochert er missmutig in seinem
Essen herum. Seine grauen Augen über der Hakennase scheinen
tiefes Misstrauen gegenüber dem Fremdling
auszudrücken.
Der einzige der gelegentlich ein paar Worte an
Bergen richtet, ist Camren, ein Priester des Saër mittleren Alters, der ein
persönlicher Freund und Vertrauter des Grafen ist. Er lebt wohl
auch auf der Burg.
Andere prominente Gäste sind Immain, der Schildträger Liëssons von Llannaid (d.h.
der Tempelvorsteher), Ciall ap Gawaen, der Tempelvorsteher des
Saër-Tempels und damit Stadtrichter von Llannaid, Cormac ap
Llannaid, der Stadtvogt und ein entfernter Verwandter des Grafen, und
Voraig, der Hafenmeister.
Zur linken Seite des Grafen sitzt seine Frau
Raenna. Graf und Gräfin verhalten sich zwar höflich,
aber kühl zueinander. Raenna unterhält sich meistens mit
einer sehr hübschen jungen Frau namens Arwen ap
Tereg. Sie ist eine Nichte des Grafen und
zur Zeit bei ihm zu Besuch.
Die anderen Gäste des Grafen, Ajac, Garthan, Gwendon und Turras sitzen an einem der Nebentische, zusammen mit dem
Haushofmeister Sionric, dem Bibliothekar und Schreiber der Burg
Liogan und den beiden militärischen Berater des Grafen, Brandon ap
Riados, dem Hauptmann der Leibgarde, und Levardos, Hauptmann der Stadtwache. Diese beiden verhalten sich recht ruhig, zeigen aber durchaus Interesse an dem Neuankömmling
Morten.
Die Unterhaltungen an allen Tischen sind recht
lebhaft, drehen sich aber um relativ belanglose Dinge, wie das
Wetter, den gestrigen Festtag und die anstehende
Jagdgesellschaft.
Morten wendet sich an den Grafen. "Oh, verzeiht
verehrter Herr Graf, ich scheine hier nicht der einzige Fremde zu
sein. Ist dieser junge Mann auch einer Eurer Gäste hier ? Ich
sah in gestern in der Krone". Er deutet sehr dezent auf den
Nebentisch.
Der Graf nickt. "Ja, das ist Meister Ajac, ein
Traumdeuterr. Er und seine Freunde haben der Stadt einen grossen
Dienst erwiesen. Ihr werdet sie auch auf der Jagd sehen."
"Einen grossen Dienst?"
Der Graf blickt sehr ernst, als er Morten
antwortet. "In der Stadt hatte sich ein Kult breitgemacht unter der
Führung eines Zauberers und huldigte dem Gott Kjarun, dem Herrn
des Hungers und der Wüsten. Diese vier konnten den Kult und den
Zauberer ausfindig und unschädlich machen."
...
Nach dem reichlichen Abendessen - es gab viel
Wildbret und Geflügel - bittet Arwen ap Tereg plötzlich
Gwendon, etwas auf seiner Laute vorzutragen.
"Nichts tue ich lieber, als Euch diesen Wunsch zu
erfüllen," meint Gwendon, während er unauffällig seine
Hände am Tischtuch abwischt und seinen Stuhl zurückschiebt.
Er weiss, dass er dem versammelten Hof ein gewisses Schauspiel
schuldig ist und winkt daher mit einer leicht affektierten Geste
einem Bediensteten, ihm seine Laute zu reichen, die er
zufälligerweise mitgebracht hat. Gemessenen Schrittes geht er in
die Mitte des Raumes und achtet darauf, eine gut ausgeleuchtete
Stelle zu finden. Fieberhaft überlegt er, was er vortragen soll.
Pflichtbewusstsein und Galanterie kämpfen in ihm miteinander.
Mit einem inneren Schulterzucken gesteht er sich ein, dass es sowieso
zu spät ist - egal wie klein oder gross der Hof ist, Neuigkeiten
machen immer schnell die Runde. Jeder hier im Raum wird bereits
wissen, dass er heute mit der Nichte des Grafen ausreiten war. Und
nachdem er jetzt von ihr aufgefordert wird, etwas vorzutragen, wird
man zwei und zwei zusammenzählen. So wird er ihnen wenigstens
einen Grund geben, sich das Maul zu zerreissen - auch wenn dies die
Verhandlungen mit dem Grafen komplizieren mag.
Kurz beugt er sich über seine Laute und
stimmt sie, obwohl er es getan hat, bevor er sich auf dem Weg zum
Festmahl gemacht hat. Auch das ist ein Teil des Rituals, dass das
Publikum von ihm erwartet, und der ihm die Gelegenheit gibt, den
Moment noch etwas hinauszuschieben. Das Lampenfieber ist immer noch
so schlimm wie beim ersten Mal, und er fragt sich, ob sich jemals
etwas daran ändern wird. Schliesslich hat das Publikum lang
genug gewartet, er blickt Arwen an und hebt an zu singen. Auch
diesmal ist er sich bis zum letzten Augenblick unsicher, ob ihn seine
Stimme im Stich lassen wird - aber dann dringt der erste Ton rein und
klar aus seiner Kehle, und es passiert wieder. Die Wände
scheinen zurückzuweichen, die Zeit rinnt träge dahin, um
ihn herum beginnen Farben und Formen zu verschmelzen. Er hat das
Gefühl zu schweben und sieht - körperlos - auf sich und die
gebannte Menge herab. Er sieht, wie sich sein Mund bewegt, Worte
formt und die Musik das Publikum in den Bann schlägt. Seine
Stimme verschmiltzt Vortragenden und Zuhörer zu einem einem
einzigen Ganzen, dessen Aufmerksamkeit auf die Worte konzentriert
ist, die er singt:
In ihrer Schönheit wandelt sie
Wie wolkenlose Sternennacht;
Vermählt auf ihrem Antlitz sieh
Des Dunkels Reiz, des Lichtes Pracht:
Der Dämmrung zarte Harmonie,
Die hinstirbt, wenn der Tag erwacht.
O diese Wang; o diese Braun,
Wie sanft, wie still, und doch beredt,
Was wir in ihrem Lächeln schaun!
Ein frommes Wirken früh und spät,
Ein Herz voll Frieden und Vertraun,
Und Lieb, unschuldig wie Gebet.
Nachdem die letzte Note verhallt ist, findet er
sich in seinem Körper wieder und merkt, wie die Gemeinschaft
noch einen Augenblick anhält und dann wieder in ihre Einzelteile
zerfällt. Ohne hinzusehen weiss er, dass sich die Blicke von ihm
lösen und zu Arwen wandern.Und er erwartet mit vorgebeugtem Kopf
die Reaktion seiner Zuhörer.
Es gibt Applaus und bewundernde Zustimmung von der
gräflichen Familie und ihren Gästen. Dem grösseren
Publikum in der Halle wäre ein einfacheres und gröberes
Trinklied sicherlich lieber gewesen, aber die, für die das Lied
gedacht war - Arwen ap Tereg - lächelt Gwendon zufrieden an -
ihr scheint sein Lied sehr gut gefallen zu haben.
Kurz darauf zieht sich der Graf zusammen mit
Morten Essansor und den meisten wichtigen Persönlichkeiten der
Stadt zurück.