Seit ein paar Tagen liegt eine gewisse
Spannung über dem Schiff, sogar Tim scheint gelegentlich an
etwas anderes als Aiunn zu denken. Im steht seine erste echte
Prüfung als Navigator der "Celara" bevor: Ulgors Schlund.
Letzte Nacht hat der Ausguck ein Licht am Horizont
ausgemacht, das "Schlundfeuer". Vor gut sechzig Jahren wurde ein
Leuchtturm auf einer einsamen Felseninsel errichtet, um die Seefahrer
vor dem Schlund zu warnen. Er leistet gute Dienste, aber immer noch
ist die Durchfahrt ins Meer der Kälte kein alltägliches
Ereignis.
Im Morgengrauen haben Kapitänin Fiarel, Tim
und Ylor zusammen die Aufzeichnungen der Navigatorengilde
gewälzt, um den richtigen Zeitpunkt für die Durchfahrt zu
bestimmen. Zwei lange Stunden wurden die Segel gerefft, und die
"Celara" lag träge in der Dünung. Fiarel brachte vor der
ganzen Mannschaft Ulgor, dem Herrn der Tiefen, ein Speiseopfer dar
und bat um den Segen Ulans, um das Schiff vor dem Zorn seines dunklen
Bruders zu beschützen.
Nun sind alle Segel wieder gesetzt, und die
"Celara" jagt wie ein rassiges Rennpferd über die Welten.
Rechter Hand ragen die gezackten Klippen des Kap Tulannon wie
abgebrochene Zähne aus dem Meer empor, und linker Hand ist die
gegenüberliegende Küste als dunkler Streifen am Horizont zu
sehen. Das Fahrwasser wird zunehmends enger.
Tim steht auf dem Achterdeck, das Ruder fest im
Griff. Ylor und ein Matrose sind bereit, ihm zur Seite zu springen,
falls das nötig werden sollte. Die Kapitänin steht an der
Reling des Achterdecks und beobachtet Schiff und Mannschaft genau
aber gelassen. Für sie ist Ulgors Schlund nichts Neues mehr. Sie
hat die Passagiere gebeten, sich unter Deck zu begeben, aber Aiunn
und Morten haben sich geweigert, nicht bereit, sich dieses Schauspiel
entgehen zu lassen. Mit Leinen gesichert stehen sie an der
Backbordreling, an einer Stelle, an der sie möglichst wenig im
Weg sind. Die Mannschaft ist bereit - es kann losgehen.
Ein zuerst nur unterschwelliges Dröhnen ist
langsam immer lauter geworden und beginnt nun, alle anderen
Geräusche zu übertönen. Jetzt ist es ein Donnern, und
es scheint von überall zu kommen. Der Horizont sieht seltsam
aus, und dann senkt sich der Bug des Schiffes, und die "Celara"
fährt in Ulgors Schlund hinein.
Vor dem Schiff erstreckt sich ein riesiger Strudel
über die ganze Breite des Fahrwassers, wohl 2 Meilen im
Durchmesser. Donnernd und tosend verschwinden hier, wo Meer der
Kälte und Narsariansiche Meer sich treffen, die graugrünen
Wassermassen im Nichts.
"Segel reffen!", erschallt Tim's Kommando
über dem Dröhnen des Mahlstroms. Wenn die "Celara" hier
versuchte, gegen die Strömung zu segeln, würden ihr
wahrscheinlich die Masten abgerissen. Tim hat das Schiff aber nicht
geradeaus in den Trichter des Strudels gesteuert, sondern
schräg, in der Richtung seiner Drehung. Schon vorher schnell,
wird die "Celara" jetzt durch die Strömung noch weiter
beschleunigt und schiesst förmlich durch die Wellen. Aber keine
noch so grosse Geschwindigkeit reicht aus, das Schiff aus den Klauen
des Schlunds zu entreissen. Tim hat gar keine andere Wahl, als es in
der Kreisströmung zu halten. Schon ist die "Celara" auf der
anderen Seite des Strudels und dem bodenlosen Loch in der Mitte ein
gutes Stück näher.
Morten fragt sich, wie sich das Schiff je wieder
hieraus befreien soll. Aber als er das Zentrum des Strudels genau
beobachtet, erkennt er eine Veränderung. Der Strudel beginnt
sich aufzulösen! Langsam aber sicher wird das Dröhnen
leiser und der Trichter flacher. Das Loch ist plötzlich nicht
mehr bodenlos, sondern verliert immer mehr an Tiefe. Einmal, zweimal
umkreist das Schiff noch den Strudel, dann kommt das Kommando "Segel
setzen!", und Tim drückt das Ruder herum. Wie ein Schleuderstein
verlässt die "Celara" ihre Kreisbahn und bricht aus der
unheilvollen Anziehungskraft des Schlunds aus. Morten und Aiunn
blicken zurück, und nur die unruhige See verrät, dass hier
eben noch ein gewaltiger Mahlstrom war.
Erleichtert wollen sie aufatmen, als sie die immer
noch angespannten Mienen der Seeleute sehen. Die Gefahr ist noch
nicht vorbei. Alles scheint ruhig, aber die Stille nimmt unversehends
eine bedrohliche Qualität an. Die ganze Welt scheint den Atmen
anzuhalten.
Dann erschüttert ein ohrenbetäubender
Donnerschlag die "Celara" und zerfetzt fast die Segel. Hinter dem
Schiff bäumt sich das Meer auf. Eine riesige Fontäne
schiesst zum Himmel empor und schleudert gewaltige Wassermassen von
sich. Und dann erkennt man die Gefahr. Eine Flutwelle wälzt sich
an das Schiff heran. Höher und höher steigt die grüne
Wasserwand, bis sie den ganze Himmel einzunehmen scheint. Tims Blick
ist jetzt nicht mehr nach vorne, sondern nach hinten gerichtet. Ein
paar kleine Kurskorrekturen lassen das Heck genau auf die Welle
zeigen. Dann ist sie heran und hebt das Schiff empor. Jeder klammert
sich fest so gut er kann, denn die Regeln der Schwerkraft scheinen
aufgehoben. Der Bug des Schiffes zeigt hinunter in die Tiefen Ulgors,
das Heck ragt in den Himmel. Aufwärts geht es mit schrecklicher
Geschwindigkeit. Einen Moment lang scheint das Schiff frei in den
Lüften zu schweben, und dann geht es auf der anderen Seite
hinab. Fast wie aus dem freien Fall kracht die "Celara" wieder in
ruhigere Gewässer. Eine Weile noch wird das Schiff von den
Folgewellen hin und her geschleudert, aber die Gefahr ist
vorrüber.
Fiarel nickt Tim anerkennend zu und begibt sich
gelassen unter Deck, während Morten und Aiunn auf das Achterdeck
klettern. Noch etwas bleich schüttelt Morten Tim Kallar die
Hand.
"Gute Arbeit, Mann. Ich habe nicht gewusst, dass
diese Reise so Aufregendes zu bieten hat."
In Aiunns Augen leuchtet ein seltsames Feuer.
Plötzlich umarmt sie Tim und flüstert: "Das war sehr
aufregend." Ein leichter Kuss streift seine Wange. Dann verschwindet
Aiunn in Richtung ihrer Kabine.
"Ich hoffe wir haben nicht mehr von diesen kleinen
'Hindernissen' vor uns", meint Morten.
Tim schaut Aiunn hinterher, und es scheint, als ob
er durchaus gewillt wäre, noch ein dutzend Mal durch Ulgors
Schlund zu fahren.