DATUM: 10. Aleet (Geistertag, Feuerwoche, Elrani) - Kurz vor Mitternacht
Gedankenverloren steigst du den Hügel in die Stadt hinab. Einmal eilen
einige Stadtwachen an Dir vorbei, beachten Dich jedoch überhaupt nicht.
Du fröstelst in der kalten Herbstluft und wickelst den Matel enger um Deine
Schultern. Während Du den zu so später Stunde verlassenen Marktplatz
ruhigen Schrittes überquerst, läßt Du Deine Gedanken wandern. Aiunn sollte
auf keinen Fall im Tempel bleiben. Selbst der wird keine ausreichenden
Verteidigungsmaßnahmen besitzen. Da ist es bestimmt gesünder, die Stadt zu
verlassen, oder sich auf die Burg zu begeben. Alles andere wird über kurz
oder lang fallen. Dir wäre auf jeden Fall ein schnelles Schiff am liebsten.
Fast unbewußt tragen Dich Deine Füße zum Tempel des Saer. Bald stehst Du
vor dem prächtigen Gebäude des Gottes der Wahrheit, das sich auf der
randwärtigen Seite des großen Marktplatzes befindet. Du zögerst einen
Moment. Was für Tiraden wird Liona wohl diesmal von sich geben? Egal!
Energisch pochst Du an das Portal des Tempels.
Zuerst passiert gar nichts, aber nach wiederholtem Klopfen hörst Du
schließlich, wie der Riegel auf der Innenseite zur Seite gezogen wird.
Der eine Flügel des Portals öffnet sich einen Spalt, und der Schein einer
Lampe fällt heraus.
"Was wollt Ihr so spät noch?" fragt Dich eine verschlafene Männerstimme.
Das Licht blendet Dich, so daß Du den Sprecher nicht erkennen kannst.
Deine Augen mit der linken Hand abschirmend bringst Du Dein Anliegen vor.
"Ich muß dringend mit Fräulein Aiunn reden."
"Mit wem?"
"Fräulein Aiunn. Sie ist zusammen mit einer Priesterin aus Narsaria -
Liona Yalini - in Eurem Tempel untergekommen."
"Ach so. Die beiden sind nicht mehr hier. Sie haben unser Haus schon heute
abend wieder verlassen." Dein Gegenüber gähnt herzhaft.
"Oh! Ich will Euch nicht stören, aber könnt Ihr mir sagen, wo sie
hingegangen sind?"
"Nein, das weiß ich leider nicht. Kommt morgen nochmal wieder, vielleicht
ist dann jemand wach, der Euch weiterhelfen kann."
"Hmm, danke. Entschuldigt die Störung." Entäuscht willst Du Dich schon
abwenden, als Dich der Mann nocheinmal aufhält.
"Ach, einen Moment. Wie ist Euer Name?"
Du drehst Dich ihm wieder zu. "Tim Kallar. Wieso?"
"Mir ist gerade wieder eingefallen, daß die junge Dame einen Brief für
einen gewissen Kallar hinterlassen hat. Ich sollte ihn Euch aushändigen."
"Ja und? Wo ist nun dieser Brief?" fragst Du ungeduldig.
"Immer mit der Ruhe, kommt erstmal herein." Mit diesen Worten wird die Tür
weiter geöffnet, und Du kannst den Tempel betreten.
Du stehst in einer langen, prächtig ausgestatteten Halle. Zwei lange
Säulenreihen ziehen sich an den Längswänden hin und verschwinden bald in
der Dunkelheit. Das schwache Licht, das die Öllampe des nachtwachenden
Priesters spendet, läßt riesige Behänge an den Wänden hinter den Säulen
erahnen. Der Preister der Dich hereingelassen hat, ist noch recht jung und
betrachtet Dich neugierig aus alllerdings etwas verschlafenen Augen.
"Ihr scheint der richtige zu sein. Wartet einen Augenblick. Ich hole den
Brief." Er wendet sich ab, verschwindet durch einen Durchgang in der linken
Wand läßt Dich allein im Dunkel zurück.
Ein leichtes Schimmern aus einer Wandnische nahe des Portals zieht Deine
Aufmerksamkeit auf sich, und Du gehst die paar Schritte hinüber. In der
Nische liegt auf einem Podest aufgeschlagen ein großes Buch, und eine
Kerze spendet ein wenig Licht. Du weißt, daß der Kult des Saer viele
heilige Schriften besitzt. Daher hütest Du Dich, das Buch zu berühren,
beugst Dich aber darüber und wirfst einen Blick auf die Schrift. Zu Deiner
Überraschung ist das Buch in Narsam geschrieben, so daß Du es mühelos
lesen kannst. Mit einer Art Maske aus kostbar verziertem Stoff ist ein
Absatz besonders hervorgehoben:
- Und der Herr sprach zu seinem Propheten: "Die Lüge wird allgegenwärtig
sein, und ihre Diener werden nach Legionen zählen." Und der Prophet
antwortete: "Aber wie sollen die Getreuen unterscheiden zwischen der
Wahrheit und der Lüge?" Und Saer sprach: "Sie werden blind und taub sein
und nicht unterscheiden können zwischen meiner Wahrheit und seiner Lüge.
Erst wenn es zu spät ist, werden sie ihren Irrtum erkennen. Und nichts was
Du tust wird irgendetwas daran ändern, denn sie wollen die Wahrheit nicht
sehen." -
Schritte lassen dich hochfahren. Als Du Dich umdrehst, siehst Du, wie der
Priester wieder die Halle betritt. Er hält einen Brief in der Hand.
"Hier ist das Schreiben der jungen Dame." Mit diesen Worten reicht er Dir
das Papier.
Vorsichtig erbrichst Du das Siegel und faltest den Brief auf. Du siehst
einige Zeilen in Aiunns flüssiger Handschrift. Das Papier duftet ganz
leicht nach ihrem Parfum.
Geliebter Tim,
ich habe Deine Nachricht erhalten. Liona hält es für angemessen,
in der Burg Schutz zu suchen, und hat über den Tempelvorsteher
erreicht, daß wir dort untergebracht werden.
Mit Schrecken habe ich gehört, was Dir passiert ist. Wenn Du diesen
Brief liest, wirst Du aber wieder frei sein.
Ich weiß nicht, ob ich Dich in den nächsten Tagen sehen kann, aber
in Gedanken bin ich bei Dir. Ich vermisse Dich schon jetzt. Paß
auf Dich auf!
Egal was passiert, egal was Du siehst, denk immer daran: Ich liebe
Dich.
Aiunn
Plötzlich wird Dir klar, daß Du immer noch in der Halle des Tempels stehst.
Der Priester schaut Dich etwas ungeduldig an. Schnell verabschiedest Du Dich
und verläßt das Gotteshaus.
Tief atmest Du die frische Nachtluft ein. Aiunn ist in der Burg - hoffentlich
in Sicherheit. Aber was soll dieser seltsame letzte Satz in ihrem Brief?
Naja, auf jeden Fall willst Du auch noch nach Fiarel und der "Celara"
schauen. Vielleicht ist die Kapitänin ja noch wach.
...
Genüßlich läßt Du Dir den schweren roten Wein durch die Kehle rinnen, den
Fiarel Dir eingeschenkt hat. Du lehnst Dich in Deinem Stuhl zurück und
schaust zur Kapitänin auf, die, den Weinkelch in der Hand, nachdenklich
in ihrer Kajüte auf und ab geht.
"Vier Fünftel der Mannschaft treiben sich jetzt Ulgor weiß wo in Llannaid
herum, und ich habe nicht vor, mit einem völlig unterbemannten Schiff in See
zu stechen, wo die Herbststürme jederzeit losbrechen können. Ich brauche
mindestens drei Tage, um genug Leute zusammen zu bekommen." Sie schaut Dich
etwas verzweifelt an. "Andererseits habe ich keine Lust in einen Krieg
hinein zu geraten. Ist es wirklich nicht nur ein Gerücht?"
Du seufzt. "Wie gesagt, es war eine Meldung an den Hauptmann der Stadtwache.
Ich kann mir nicht vorstellen, daß es nur ein Gerücht war."
"Nachdem dieser Taran Eure Nachricht vorbei gebracht hat, habe ich mich
erstmal selbst umgehört. Obwohl von Zwistigkeiten zwischen dem Grafen und
dem König erzählt wurde, wußte doch niemand etwas von einem Angriff."
"Ich glaube, das wird sich bald ändern. Und da der Graf zur Zeit nicht in
der Stadt ist, wird es wahrscheinlich nicht auf eine lange Belagerung
hinauslaufen."
"Na gut. Ich werde direkt morgen anfangen, die Manschaft wieder zusammen zu
sammeln. Ich weiß aber nicht, wann die "Celara" zum Auslaufen bereit sein
wird. Darauf war ich wirklich nicht vorbereitet. Ihr seid aber herzlich
eingeladen, Eure Stelle auf meinem Schiff wieder einzunehmen, Herr Kallar."
Du schwenkst den Rest Deines Weines im Kelch hin und her und denkst nach.