Kap Maran verschwindet langsam hinter dem Horizont. Die wässrige
Herbstsonne spendet wenig Wärme, so dass sich alle Gestalten
an Deck gegen die kühle Seeluft in warme Kleidung gehüllt
haben. Tim Kallar steht am Ruder, aber die Gewässer sind ungefährlich,
und so hat er Zeit, Morten Essansar, der an der Reling lehnt, ein
wenig über die Kunst der Navigation zu erzählen. Dabei hält
er aber ein Auge auf das Deck, um die Mannschaft zu beobachten und
vielleicht einen Blick auf Aiunn zu erhaschen.
...
Kapitänin Fiarel Unangor steigt die
hölzerne Treppe zum Achterdeck herauf.
"Alles klar, Tim?" fragt sie und lässt ihren
Blick über das Schiff gleiten.
"Aye, Käpt'n", antwortet Tim und folgt ihrem
Blick. Die Mannschaft scheint guter Laune zu sein, die neuen, weissen
Segel blähen sich im achterlichen Wind, und das Schiff gehorcht
dem kleinsten Ruderschlag. Es könnte nicht besser sein.
Fiarel wendet sich an Morten. "Gefällt Euch
mein Schiff?"
"Sie ist ein Wunderwerk der Technik. Ich habe
selten etwas so Schönes gesehen."
Die Kapitänin lächelt Morten freundlich
an. "Ich möchte Euch zum Essen heute abend bei mir in der
Kajüte einladen. Wir werden einige Zeit zusammen reisen, und man
sollte sich kennenlernen. Die anderen Passagiere werden auch
kommen."
"Ich fühle mich geehrt und werde
natürlich erscheinen."
"Sehr gut."
Tim kann es sich offensichtlich kaum verkneifen,
neidische Blicke auf Morten zu werfen, als sich Fiarel wieder ihm
zuwendet.
"Als mein erster Navigator solltet auch Ihr
erscheinen, Meister Kallar."
Tim nickt glücklich, sagt aber nichts. Wenn
er jetzt den Mund aufmachen würde, würde ihm wahrscheinlich
ein Freudenjauchzer entwischen. Aber die Förmlichkeit der
Kapitänin ist ihm noch sehr ungewohnt. Natürlich, die
Anrede "Meister" steht ihm als Mitglied der Navigatorengilde zu, aber
sein letzter Kapitän hatte schnell von diesem steifen Ton
Abstand genommen. Fiarel Unangor scheint da anders zu sein.
...
Acht Personen sind um den Tisch in der
luxuriös eingerichteten Kapitänskajüte versammelt:
Fiarel Unangor, die fünf Passagiere, Tim Kallar und Adept
Josiro. Eine Öllampe, die an der Decke schaukelt, und mehrere
Kerzen spiegeln sich im silbernen Tafelgeschirr und spenden ein
angenehmes Licht.
"...unddannsagtmeinManndieGöttermögenihmgnädigseindoch:'KommLiebes
zuHausefindenwirmehrKultur.'Hahahahahahahahahaha.AchlieberTimichdarf
EuchdochTimnennenoder?LieberTimreichtmirdochbittenochmaldieSchüsselmitdemKompott,
derKompottistwirklichausgezeichnt.KomplimentandenKoch,achneinKöchin,genau.Tim?"
"Hm?"
"WürdetIhrbittesogutseinundmirdieKompottschüsselreichen?"
"Oh, ach ja, genau, hier bitte."
Aiunn trägt ein tief ausgeschnittenes,
weinrotes Kleid, das ihre Figur sehr betont. Ihr langes dunkles Haar
hat sie mit einer Diamantnadel hochgesteckt, ein passendes
Silbercollier schmückt ihren zarten Hals. Anmutig verspeist sie
die servierten Speisen, und nur gelegentlich hellt ein Lachen von ihr
die Unterhaltung auf.
"WirklichsehrliebenswürdigvonEuchlieberTim.Ihrseideinsehrwohlerzogener
jungerMann.HabeichEuchschonerzählt,wiemeinEnkelsohnvorzweiJahren..."
Seufz.
...
"Ich habe von dem grossen Aquädukt bei
Alintoros gehört. Ihr sagt, an diesem Projekt habt Ihr
mitgewirkt?" Olorin Giamantor mustert Morten plötzlich mit mehr
Interesse. "Reist Ihr für ein Projekt nach Llannaid?"
"Allerdings. Der Graf von Llannaid benötigt
meine Dienste. Ich weiss zwar noch nicht genau, worum es sich
handelt, aber es scheint ein grösseres Projekt zu sein. Leider
war ich noch nie in Llannaid oder in Gwynneth und weiss daher kaum,
was mich erwartet. Könnt Ihr mir mehr sagen?"
"Ich reise selbst zum ersten Mal in diese Gegend.
In Gwynnin, der Hauptstadt des Landes steht ein sehr alter und
berühmter Tempel des Saër. Da meiner Familie ein
schwieriger Gerichtsprozess gegen einen Konkurrenten bevorsteht, habe
ich es auf mich genommen, eine Pilgerfahrt dorthin zu unternehmen, um
den Höchsten Richter Saër wohlwollend zu stimmen. Der
Tempel war so freundlich, mir zwei seiner Diener zur Seite zu
stellen."
Er deutet auf Liona und Quinn.
Fiarel Unangor mischt sich in das Gespräch.
"Saër und Liesson, der Herr des Krieges, sind die beiden
Hauptgötter des Königreichs Gwynneth. Das sagt schon viel
über die Menschen dort aus, recht kriegerisch, aber ehrenhaft.
Sie sind ziemlich barbarisch für unsere Verhältnisse, aber
ich mag das Land. Na, sagen wir zumindest die Stadt Llannaid, denn
weit bin ich über sie nicht hinausgekommen."
"Kennt Ihr den Grafen von Llannaid?"
"Nein, selbst nicht. Aber ich weiss, dass er bei
seinen Untertanen sehr angesehen ist. Und Llannaid ist eine
blühende Stadt. Ich denke, dass Eure Anwesenheit etwas mit
Plänen des Grafen zu tun hat, narsarianische Errungenschaften in
seiner Stadt einzuführen."
"Ist Gwynneth gross?"
"Nein, nicht besonders. Es nicht noch nicht einmal
unabhängig, denn es stehtunter der Oberherrschaft der Tlaroi.
Schon seit vielen Generationen, soweit ich weiss."
"Tlaroi?"
"Ja, das grosse Reich, dass von der Chelek von
Chelekar aus regiert wird. Ich glaube, es gibt ein oder zwei grosse
Tlaroifestungen im Gebiet von Gwynneth und eine der grossen
imperialen Strassen führt durch das Königreich. Aber Ihr
werdet schon selber sehen, wenn Ihr dorthin kommt."
...
Adept Josiro und Quin Verrasantar sind tief in ein
Gespräch über den "Orden des weissen Turmes" und die
wachsende Macht dieser Magiergilde in Narsaria versunken.
...
"...unddasLebenimKlosteristjasooerfrischend.DieseRuheundAbgeschiedenheit.
AlsobmanineineranderenWeltohneSorgenundProblemewäre.Ihrmüsstesauch
einmalversuchenlieberTim,ichbinsicher,eswürdeEuchgefallen."
Liona nimmt einen Schluck aus ihrem Weinglas, was
eine hochwillkommene Atempause gewährt.
"hmh, Darf ich D... Euch noch etwas Wein
einschenken, Ai... Fräulein Giamantor?"
Sie lacht herzlich. "Ich heisse gar nicht
Giamantor, Ihr könnt mich also einfach Aiunn nennen. Und ja, ich
hätte gerne noch etwas Wein."
Ihre Augen blitzen im Kerzenschein, als sie Tim
anschaut und ihm ihr Weinglas hinhält.
"Seid Ihr auch auf Pilgerfahrt wie Euer Onkel,
oder was bringt Euch auf diese Reise?"
Aiunn schüttelt den Kopf. "Nein, ich begleite
ihn nur."
"Esisteigentlichsehrungehörig,einejungeDame,diewedervelobtnochverheiratetist,
aufeinesolcheReisemitzunehmen."
Am anderen Ende des Tisches hat Giamantor diese
Worte offensichtlich gehört. "Ich bin ein alter Mann und brauche
jemanden der auf mich aufpasst und mich aufhebt, wenn ich stolpere."
Er lächelt Aiunn über den Tisch hinweg
an. Sie senkt bescheiden die Augen.
"AchsagtdochnichtsowasOlorin.IhrseiddochnochkeinalterMann.MeinGattehatinEuremAlternoch..."
Als Tim seinen Blick wieder auf Aiunn richtet,
lächelt sie ihn an und hebt grüssend das Glas. So
lässt sich sogar Lionafara Yalini ertragen.