Heute wird in Llannaid, wie in ganz
Gwynneth, vom Adel und von der Priesterschaft der "Tag der
Brüder" gefeiert. Nach hiesiger Mythologie sind Saër und
Liësson Brüder, und an diesem Tag wird ihnen für ihren
Schutz und ihren Segen über den Herrschenden und den Richtern
gedankt.
Es scheint noch tiefe Nacht zu sein, als Du Dich
aus dem Schlaf hochkämpfst. Eine Dienerin steht mit einer Kerze
in der Hand in der Tür.
"Ihr wolltet für den Götterdienst
geweckt werden, Herr."
"Hm? - Ja, sehr gut. Danke."
Sie stellt die Kerze auf den Tisch und
schlüpft so still wie sie gekommen ist wieder davon. Du
verlässt die heimelige Wärme der Laken und fröstelst
in der kalten Herbstluft, die durch das unverglaste Fenster
hereindringt.
Im Frühstückszimmer steht eine grosse
Schüssel mit Wasser, und ein Stück Seife liegt daneben. Die
Morgenwäsche vertreibt die letzten Reste des Schlafs aus Deinem
Kopf. Während Du in Deinem Zimmer die Rüstung anlegst, wie
es sich für einen Feiertag des Liësson gehört,
hörst Du, wie die Dienerin zurückkommt und nebenan das
Frühstück anrichtet. Du isst aber nur ein Stück Brot
und trinkst etwas Wasser, um die Bedeutung des Tages durch Fasten zu
ehren. Dann schnallst Du Dir den Anderthalbhänder mit der Rune
Deines Gottes um und nimmst Dein Schild, die Bewaffnung mit der Du
initiiert worden bist, und verlässt den Raum.
...
Gut zwei Dutzend Gestalten haben sich im Burghof
versammelt, um gemeinsam zum Saërtempel zu gehen und dort
Schwertwache zu halten, bis der eigentliche Götterdienst beginnt.
Hier und da wird ein leises Wort gewechselt, aber meistens herrscht
andächtiges Schweigen. Noch hängt Nebel in der Luft, aber
schon reisst er hier und da auf und entblösst den sich langsam
aufhellenden Himmel. Es verspricht ein schöner Tag zu werden.
Schliesslich kommt Hauptmann Brandon in der Begleitung von Olan Maduk
aus der Burg und führt die Gruppe schweigend hinunter in die
Stadt.
...
Die lange Halle des Tempels ist still und
kühl. Fast vierzig Liëssongläubige, alle in
Rüstung und bewaffnet, haben sich hier eingefunden. Wie Du auch
knien sie nun im Gebet versunken an den Längswänden der
Halle, das Schwert vor sich auf den Boden gestützt und die
Hände auf dem Heft ruhend. Im hinteren Teil der Halle, in der
Nähe des Altars, sind einige Akolythen Saërs schweigend
dabei, die Zeremonien des Götterdienstes vorzubereiten. Einige
wenige hohe Wachskerzen spenden das einzige Licht, so dass die Halle
in ein goldenes Zwielicht getaucht ist.
Zwei Stunden währt die Schwertwache im Tempel des Saër. Inzwischen fällt blasses
Morgenlicht durch die hohen Fenster zu beiden Seiten des Portals und
hinter dem Altar und enthüllt die prächtigen
Wandgemälde der Halle. Szenen aus der Geschichte des Hauses und
der Stadt Llannaid ziehen sich hinter den beiden Säulenreihen
and den Längswänden entlang. Das eindrucksvollste
Gemälde zeigt eine Schlacht, in der ein Krieger, mit dem Wappen
derer von Llannaid auf seinem Schild, einen gestürzten Mann mit
einer Krone aus seinem Haupt, offenbar der König, vor
unzähligen Feinden verteidigt. In der nächsten Szene
überreicht der König nach anscheinend siegreicher Schlacht
dem Krieger ein neues Schild, auf dem die Symbole Liëssons und
Saërs (Schwert und Waage) vereinigt sind und von dem ein
goldenes Leuchten ausgeht.
Die Flügel des Portals werden aufgestossen
und die Priester des Liësson, in strahlenden Panzerhemden unter
blau-weissen Überwürfen ziehen in den Tempel ein. Im
Vorübergehen segnen sie die Initiaten der Schwertwache. Gleichzeitig betreten die Priester und Priesterinnen des
Saër die Halle durch Türen in den Längswänden.
Sie sind in schwarz-weisse Roben gehüllt und haben alle eine
weite Kapuze über ihren Kopf gezogen. Während die Diener
Liëssons sich zu beiden Seiten des Altars aufstellen, beziehen
die Geweihten Saërs Stellung hinter demselben.
Dann betritt der Graf mit seinem Gefolge die Halle. Er schreitet langsam und
gemessen voran. Hinter ihm siehst Du seine Frau, gross und
strengblickend, seinen Onkel, auf einen Pagen gestützt, und
mehrere andere Mitglieder seines Haushalts. Reich verzierte
Stühle stehen bereit, in denen diese vornehmsten Teilnehmer des
Götterdienstes Platz nehmen können. Dann ercheint das Gros
der Gläubigen. Eine Mischung aus wichtig aussehenden Offiziellen
und Reichen, vielen einfachen Soldaten der Wache und der Garde und
ihren Familien füllt die Halle. Schliesslich sind sicherlich
drei- bis vierhundert Menschen hier versammelt, aber der Tempel hat
Platz für sie alle. Schliesslich beginnt der Götterdienst
mit einer Hymne an die göttlichen Brüder. Du verstehst die
Worte nicht, aber der tragende Gesang berührt Dich tief und Du
versinkst in der heiligen Stimmung der Zeremonie.
...
Irgendwann mitten im Götterdienst öffnet
sich eine kleinere Tür, die in einen Flügel des Portals
eingelassen ist, und drei Nachzügler betreten den Tempel und
reihen sich in die hinteren Reihen der Gläubigen ein. Was Dich
wundert ist, dass zwei von ihnen, ein Mann und eine Frau, Priester
des Saër zu sein scheinen. Zumindest sind sie in schwarz-weisse
Roben gekleidet, wenn auch Schnitt und Material anders sind.
Der dritte ist ein älterer Mann in teurer,
aber unauffälliger Gewandung.
...
Es ist Mittag, der Götterdienst ist vorbei,
und langsam leert sich der Tempel des Saër. Während Du die
Halle mit den anderen Gläubigen verlässt, siehst Du noch,
wie die drei Neuankömmlinge sich zu den anderen Priestern des
Saër begeben. Draussen scheint eine blasse Herbstsonne von einem
milchigen Himmel. Nach dem Zwielicht des Tempels, blinzelst Du jedoch
erst einmal, um Dich an diese Helligkeit zu gewöhnen. Dein
nächstes Ziel ist der Tempel des Liësson, der wie der
Saërtempel am grossen Marktplatz der Stadt liegt, um weitere
Gebete an Liësson zu senden, die göttliche Kraft Deines
Schwertes zu erneuern und vielleicht das eine oder andere über
die Legenden dieses Landes zu erfahren.
Der Tempel Liëssons ist etwas kleiner und
spartanischer eingerichtet, als der Saërs, aber Du merkst, dass
das weniger an der Bedeutung oder dem Reichtum des Kultes, als an
einer grösseren Bescheidenheit liegt. Nach dem gemeinsamen
Götterdienst haben sich hier einige Priester und Initiaten
Liesons versammelt, um in der Stille des Tempels weiter die Bedeutung
des Feiertages zu würdigen. Immain, der hiesige
"Schildträger", heisst Dich als einen Neuling in seinem Tempel
willkommen. Zwischen Gebeten, kleineren Ritualen und einer
zeremoniellen Reinigung von Waffen und Rüstung erfährst Du
einiges über den Kult in
Gwynneth.
Das erwähnte Kloster des "Ordens des Heiligen
Schwerts" befindet sich irgendwo rand- und drehwärts in den
Bergen und bezieht sich natürlich auf das Schwert "Durang", das
Ulthar von Liësson erhielt, um die Menschen dieses Landes von
den räuberischen Sardisi, die von drehwärts kamen, zu
beschützen. Nachdem Donar Schwerträger trotz der Hilfe des
Schwertes die Invasion der Tlaroi nicht abschlagen konnte, wurde
"Durang" von Liësson wieder der Welt entrückt.
Eine Bibliothek oder Schriftensammlung hat der
Tempeld des Liësson allerdings nicht. Die einzige derartige
Einrichtung in Llannaid hat der Niamut-Tempel, dort haben aber nur
Geweihte dieser Göttin zutritt.
...
Gegen abend spürst Du, wie die Kraft
Liëssons wieder Dein Schwert durchströmt (beschleunigt
durch den hohen Feiertag), und schliesslich verlässt Du den
Tempel wieder. Die Sonne ist untergegangen, und die ersten Sterne
erscheinen am Abendhimmel, als Du den Hügel zur Burg
emporsteigst.
In Euren Gemächern entledigst Du Dich Deiner
Rüstung und Waffen, wäscht Dich, isst ein wenig - immer
noch die Fastenregeln beachtend - und begibst Dich schliesslich in
die Bibliothek des Grafen, wo sich schon die anderen befinden, wie Du
von Rianna der Dienerin erfahren hast.