DATUM: 10. Aleet (Geistertag, Feuerwoche, Elrani) - Mittags
"Sollten wir nicht langsam wieder aufbrechen?" fragt Morten. "Je schneller
wir aus diesem Loch verschwinden desto besser."
Malvin nickt. "Ja, gehen wir weiter."
Langsam rappeln sich alle wieder auf, und es geht in der alten Marschordnung
weiter. Als Malvin die Gruppe durch die dunkle Halle führt, kann man
erkennen, dass die Stufen in in der Mitte des Raumes eine Art Amphiteater
bilden. Die Ausmasse sind in der Düsternis nur zu erahnen, aber es könnten
dort sicherlich einige hundert - vielleicht sogar tausende - Menschen Platz
finden. Steintreppen führen zwischen den steinernen Sitzreihen hinab,
aber Malvin geth zielsicher an diesen vorbei um das weite Rund herum.
Graf Tamaig ist von dieser riesigen unterirdischen Anlage offensichtlich
stark beeindruckt. "Was für eine gewaltige Arbeit es gewesen sein muss,
dies alles zu schaffen."
"Ja, und alles völlig umsonst", kommt Malvins trockener Kommentar von vorne.
"Was meint Ihr damit?" fragt der Graf nach, aber Malvin scheint wieder in
Gedanken versunken und antwortet nicht.
Als Ihr wohl ein Drittel des Theaters umrundet habt, biegt Malvin in Richtung
der Hallenwand ab. Dort gähnt hinter den Säulen die Öffnung eines anderen
Ganges, in der Ihr einer nach dem anderen verschwindet.
...
Ihr seid vielleicht seit einer halben Atlai wieder unterwegs - Malvin hat
Euch auf gewundenen Wegen durch die verschiedensten Gänge und Räume
geführt - als Ihr ganz allmählich eine Veränderung in der Atmosphäre
wahrnehmt. Ein stärkerer Luftzug weht Euch entgegen, und die Dunkelheit
jenseits des Scheins der Leuchtsteine scheint weniger undurchdringlich zu
sein. Obwohl diese Anzeichen auf die Nähe zum Tageslicht deuten, fühlt
Ihr Euch nicht erleichtert. Im Gegenteil eine Namenlose Beklemmung
bemächtigt sich Eurer, und läßt Euren Atem schwerer und Eure Schritte
kürzer werden. Malvin hält an und wendet sich um.
"Jetzt kommt der letzte und schwierigste Teil unseres Weges. Wenn alle die
Nerven behalten, wird niemandem etwas geschehen."
"Was ist los? Was erwartet uns?" Der Graf scheint alles andere als glücklich
darüber, daß ihn hier eine Gefahr erwartet, von der Malvin bisher
geschwiegen hat.
"Ganz verlassen sind diese Gänge nicht. Aber diejenigen, die hier noch
hausen, sind machtlos solange ihr Eure Angst im Zaum haltet. Solange Ihr
Standhaft seid, können sie Euch nichts anhaben."
"Saer und Liesson, erbarmet Euch unser! Wir hätten uns den Männern des
Königs ergeben sollen." Das gemurmelte Stoßgebet des Gardisten scheint
Malvin schon nicht mehr zu hören, denn er hat sich bereits wieder umgedreht
und geht festen Schrittes weiter. Ihr folgt ihm.
Das Gefühl der Beklemmung wird mit jedem Schritt stärker. Plötzlich bleibt
Gwendon wie angwurzelt stehen und starrt in einen schmalen Seitengang auf
der rechten Seite. Verwundert folgen die anderen seinem Blick. Nur das
dumpfe Aufstöhnen des Gardisten durchdringt die atemlose Stille, als Euch
die Erscheinung in der Gangöffnung bewußt wird. Dort schwebt ein Schemen,
ein Schatten, nur beim zweiten Hinblicken erkennbar. Es ist ein menschliche
Gestalt. Ein hoher Helm, unter dessen schmalen Augenschlitzen nur Dunkel
zu erkennen ist, breite Schultern, kräftige Arme, die eine schwere Axt
halten. Unter den Hüften verliert sich die Gestalt oder vermischt sich mit
der Dunkelheit. Ein stummer Wächter, der den abzweigenden Gang versperrt.
"Die Geister der Toten!" Die Stimme des Gardisten ist nicht weit von
Hysterie entfernt.
"Nerven behalten!" tönt Malvins befehlsgewohnte Stimme. "Weiter! Ihr
werdet Euch doch nicht vor ein paar Gespenstern fürchten."
Garthan schiebt den Gardisten weiter, während Turras Morten fast gewaltsam
von dem Anblick der geisterhaften Gestalt losreißen muß. Folgen Euch tote
Augen hinter dem schattenhaften Helm? Man kann es nicht sehen, trotzdem
seid Ihr davon überzeugt.
Die Erscheinung bleibt nicht die einzige. Weitere gespenstische Wächter
säumen Euren Weg, bis Ihr schließlich fast ein Spalier durchschreitet.
Den Kopf gesenkt schaut Ihr weder nach rechts noch nach links, den die
Gestalten erfüllen Euch mit einer irrationalen Furcht.
Eine Stimme läßt Euch aufschauen. Es ist nicht Malvin fester Baß, sondern
eine sanftere Stimme, schwach wie das ferne Echo vor langer Zeit gesprochener
Worte, aber eindringlich und arrogant.
"Halt! Wer betritt ohne Erlaubnis die Hallen König Angeirons?"
Vor Euch hat sich eine größere Halle geöffnet. Hohe Säulen stützen
mehrere große Kreuzgewölbe. Aber der Zugang zur Halle wird Euch von
einer seltsamen Gestalt verwehrt. Ein Greis steht Euch gegenüber - keine
Geistererscheinung, sondern ein wirklicher Mensch. Seine Arme und Beine
sind fast nur noch Knochen und sollten ihn eigentlich kaum noch tragen,
trotzdem steht er hochaufgerichtet vor Euch. Gekleidet ist er in
fadenscheinige Fetzen einstmals prächtiger Gewänder, die mühsam durch
Bindfäden zusammen gehalten werden. Auf seinem Kopf prangt eine hohe Krone,
wie ihr sie auf den Wandgemälden gesehen habt.
Der Körper des Greises ist völlig ausgemergelt, sein Haar ist schütter
und hängt in wirren weißen Strähnen herab. Alles macht den Eindruck als
stünde er an der Schwelle des Todes, nur die Stimme nicht - und die Augen.
Diese starren Euch aus tiefen Höhlen entgegen - dunkel, aber von einem
inneren Feuer belebt und von ungeheurer Intensität.
"Ich bin es," sagt Malvin, "und ich habe die Erlaubnis Eures Bruders."
Vorsichtig schließt Ihr auf, so daß Ihr als eine Gruppe hinter Malvin
steht.
"Hier herrscht aber nicht mein Bruder, sondern ich."
"Einst galt das Wort jedes Bruders in Eurem ganzen Reich das gleiche,
Argeiron. Was der eine sagte, war auch dem anderen Gesetz."
"Ich kenne Euch, Malvin. Du warst immer schon unverschämt und aufsässig.
Ich werde Dir zeigen, wessen Wort hier Gesetz ist. Ergreift sie!"
Die letzten Worte kreischt der Greis in die Dunkelheit hinein. Plötzlich
fahren ausd er Halle und aus dem Gang hinter Euch mehrere der geisterhaften
Wächter auf Euch zu, die Äxte erhoben und die Münder zu stummen Schreien
aufgerissen. Furcht umklammert wie kalte Finger Eure Herzen.
Während Graf Tamaig und der Gardist nach ihren Schwertern greifen,
bleibt Malvin völlig ungerührt stehen und zeigt keine Reaktion.