DATUM: 11. Aleet (Diensttag, Dunkelwoche, Elrani) - Morgens
"Ruder mich einmal um dieses Schiff herum, damit ich es mir von allen
Seiten ansehen kann."
Der Fischer wirft Dir einen Blick zu, der deutlich besagt, was er von
Fremden hält, die sich zum Vergnügen im Hafen herumrudern lassen, sagt
aber nichts. Das wäre ja auch noch schöner, schließlich wird er von Dir
bezahlt.
Die 'Stolz von Lynortis' ist wirklich in traurigem Zustand. Aber obwohl
sich lange niemand um ihre Seetüchtigkeit gekümmert hat, kannst Du keinen
vernünftigen Grund für diese Vernachlässigung erkennen. Sicher, sie ist
nicht mehr die Jüngste, aber ihre Substanz scheint immer noch völlig intakt
zu sein. Keine Spur von einem Leck, und sie könnte bestimmt noch einige
Jahre auf Ulans Meeren segeln. Es ist eine Schande, ein solches Schiff
hier einfach verkommen zu lassen.
"Jetzt kannst Du mich zur Hafenmeisterei bringen," sagst Du dem Fischer, als
ihr die Runde um das Schiff beendet habt.
Er nickt und legt sich ordentlich in die Riemen. Auf der Fahrt kommen wieder
Gedanken und Gefühle hoch. Verwirrung macht sich breit. Der Ring, der Mord,
ein Königsheer, die seltsamen Worte Aiunns und jetzt dieses Schiff?
Bisher hast Du Dir immer eingebildet, nicht der Dümmste auf Ulans
Meeren zu sein, aber auf diese Geschichte kannst Du Dir absolut keinen
Reim mehr machen.
Bald erreicht ihr den Steg der Hafenmeisterei. Du kletterst aus dem Boot
und gibst dem Fischer vier Klan für seine Dienste. Er grüßt dankend und legt
dann wieder ab.
Du wendest Dich dem Ufer und dem grauen, langgestreckten Gebäude der
Hafenmeisterei zu. Vor dem Eingang lungern einige Seeleute herum,
offensichtlich auf der Suche nach Arbeit. Du gehst zwischen ihnen hindurch
und betrittst das Haus. In einem langgezogenen Raum mit mehreren Bänken
und Schreibpulten sind zwei Schreiber damit beschäftigt, irgendwelche
Dokumente zu kopieren, ansonsten ist niemand zu sehen. Du wendest Dich an
einen von ihnen.
"Ulan zum Gruß. Ist der Hafenmeister zu sprechen?"
Der Schreiber blickt fragend auf. "Niamut zum Gruß, wer Seid Ihr denn?"
"Ich bin Tim Kallar, Navigator der 'Celara'."
"Oh. Meister Voraig ist hinten im Lager. Wenn ihr durch diese Tür dort geht,
werdet Ihr in finden."
"Danke, guter Mann."
Durch die Tür im Hintergrund des Raumes kommst Du in eine Lagerhalle, die
den größten Teil der Hafenmeisterei ausfüllt. Säcke und Kisten sind an den
Wänden aufgestapelt. Rechter Hand überprüfen zwei Männer den Inhalt mehrerer
Leinensäcke.
Mit einem Räuspern machst Du Dich bemerkbar. "Meister Voraig?"
Die beiden drehen sich um, und der kleinere antwortet recht barsch: "Ja?"
"Mein Name ist Tim Kallar. Habt Ihr einen Moment Zeit für mich?"
"Kallar? Ihr seid der Navigator von einem der Narsarianer?" Er kommt auf ein
paar Schritte auf Dich zu. Voraig ist recht klein, aber stämmig bis
untersetzt und sieht kräftig aus. Sein Gesicht ist zu einem großen Teil von
einem wild wucherndem Backenbart bedeckt. Seine Augen sind grau und von
einem weit verzweigtem Geflecht von Runzeln umgeben.
"Navigator der 'Celara'. Das ist richtig," antwortest Du ihm. "Ich hätte
gerne mit Euch gesprochen.
"Na gut." Er wendet sich kurz um. "Mach Du weiter, Ulof."
Dann geht er mit Dir ein paar Schritte beiseite und schaut Dich fragend an.
"Was wollt Ihr?" Sein Ton ist rauh, aber nicht unhöflich.
"Ich habe eine Frage. Im Hafen liegt ein narsarianisches Schiff, das ich
erst jetzt bemerkt habe: Die 'Stolz von Lynortis'. Sie sieht verlassen
aus. Was ist mit ihr los?"
Voraig brummelt etwas überrascht und fährt sich mit den Fingern durch seinen
Bart. "Hmpf. Das Schiff. Das hatte ich fast schon wieder vergessen."
"Was ist mit dem Schiff?" fragst Du etwas ungeduldig.
"Die 'Stolz von Lynortis' ist vor ein paar Monden völlig unterbemannt hier
angekommen. Der Käpt'n hat seine Zölle bezahlt und ist dann verschwunden.
Das Schiff hat 'ne Weile vor Anker gelegen, bis ein Sturm es auf den
Strand geworfen hat."
"Und niemand hat sich darum gekümmert?" fragst Du erstaunt.
"Ich hab' mich dann drum gekümmert", meint Voraig etwas beleidigt. "Aber
ich konnte weder den Käpt'n noch jemand von der Mannschaft finden. Die
Ladung war auch nicht mehr zu gebrauchen."
"Was war mit der Ladung?"
"Es war Sirel-Getreide. Aber alles völlig verdorben."
"Verdorben? Sirel-Getreide verdirbt doch nicht." Du kennst diese etwas
exotische Getreideart, die von jenseits des Meeres der Kälte kommt.
"Das hier schon. Wir haben es schließlich ins Meer gekippt." Er zuckt mit
den Achseln.
"Einfach so? Ohne Erlaubnis des Eigners?"
Er hebt die Hände. "Immer mit der Ruhe, ich bin mit der Geschichte noch
nicht fertig. Vor etwa zwei Wochen fing die Wache an, sich für das Schiff
zu interessieren. Sie fragten nach dem Käpt'n."
Du unterbrichst ihn. "War das Kapitän Neidam?"
Er kratzt sich am Kopf. "Kann sein. So ein hagerer Typ?"
"Hager? Sicherlich nicht. Timur Neidam war immer ein etwas fülliger Mann."
"Ich kann nachschauen. Er hat sich ja eingetragen, als er den Zoll bezahlt
hat."
"Das wäre nett."
Der Hafenmeister geht nach vorne in die Schreibstube und sieht in seinem
großen, in Leder gebundenen Hafenbuch nach. Schließlich wird er fündig.
"Seht her!"
Du wirfst einen Blick ins Buch. Tatsächlich findet sich dort folgender
Eintrag: 8. Ivla, Stolz von Lynortis, Timur Neidam, Fracht: Sirel-Getreide,
Zoll: 24 Telos.
Du schüttelst verwundert den Kopf. "Hager, sagt ihr? Das kann ich mir gar
nicht vorstellen."
"Abgemagert trifft es wahrscheinlich noch besser. Er sah fast wie ein
Skelett aus."
Besorgt schaust Du den Hafenmeister an. "Und er ist verschwunden?"
"Nun ja, er war verschwunden. Von der Wache bekam ich dann die Nachricht,
daß er tot ist."
"Tot?" Du bist schockiert. "Wie ist das passiert?"
"Ich hab' keine Ahnung." Voraig macht eine hilflose Geste. "Ging mich
nichts an. Ich hab' nur dafür gesorgt, daß der ganze Kram vom Schiff
runter kam."
"Und was ist mit der sonstigen Mannschaft? Habt ihr etwas von der
Navigatorin Iram Keressos gehört?"
Er schüttelt den Kopf. "Nichts. Vielleicht könnt ihr in den Hafenkneipen
etwas erfahren. Ich kann Euch nicht weiterhelfen." Er beäugt Dich, während
Dir alle möglichen Gedanken durch den Kopf schießen. Timur Neidam ist tot.
Du kannst es gar nicht fassen.
"Kanntet Ihr den Käpt'n?" fragt Voraig.
Du nickst. "Ich bin auf der 'Stolz von Lynortis' gefahren."
"Böse Sache, das", brummt der Hafenmeister. "Wenn ihr Wissen wollt, wo sie
Neidam begraben haben, müßt Ihr beim Saer-Tempel nachfragen. Kann ich sonst
noch helfen?"
Du schüttelst den Kopf und verabschiedest Dich von Voraig, der sich wieder
seinen Geschäften widmet.
Vor dem Gebäude der Hafenmeisterei bleibst Du einen Moment unschlüssig
stehen.
"Jetzt noch zum Saer-Tempel? Eigentlich gäbe es ja noch viel für Fiarel zu
erledigen. Außerdem bist Du Dir im Moment gar nicht so sicher, ob Du Dich
wirklich in das Geheimnis, das die 'Stolz von Lynortis' umgibt, vertiefen
sollst. Schließlich hast Du ja genug am Hals. Also schiebst Du dieses
Problem erst einmal von Dir weg und konzentrierst Dich auf die anstehenden
Arbeiten für die Celara.
...
So vergeht der Nachmittag damit, Fiarels Schiff seeklar zu machen. Du
erzählst Deiner Kapitänin zwar von der 'Stolz von Lynortis', aber wie Du
vermutet hattest, weiß sie auch nichts darüber. Sie hatte das Schiff noch
nicht einmal bemerkt. Auch Kapitän Neidam kennt sie nicht.
Zusammen mit dem Bootsmann Rengil versuchst Du, in den Kneipen des Hafens
so viele Matrosen wie möglich aufzutreiben, und ihr seid auch einigermaßen
erfolgreich. Zumindest eine Bootsladung habt ihr voll, als ihr gegen
Abend zum Schiff zurückkehrt.
Zu Deinem Erstaunen liegt längsseits der Celara bereits ein anderes Boot,
in dem zwei Gwynnether anscheinend auf die Rückkehr eines Passagiers warten.
"Wer ist an Bord?" fragst Du Ylor nachdem Du über die Bordwand geklettert
bist.
"Der Hafenmeister," antwortet zweite Steuermann. "Er wollte mit dem Käpt'n
sprechen."
"Weißt Du wieso?" fragst Du mit einem neugierigen Blick in Richtung Heck.
Ylor zuckt mit den Schultern. "Keine Ahnung. Schien aber was wichtiges zu
sein."
Da Du Fiarel jetzt nicht stören willst - alles Wichtige wirst Du wohl später
von ihr erfahren -, kümmerst Du Dich mit Ylor noch um die Verladung des
Proviants, den Zirizar besorgt hat.
Nach einiger Zeit kommt Fiarel aus der Kapitänskajüte, tatsächlich in
Begleitung von Voraig dem Hafenmeisters. Sie schüttelt ihm die Hand und
schaut ihm nach, wie er das wartende Boot besteigt und in Richtung Ufer
gerudert wird.
Dann winkt sie Dir, ihr in die Kajüte zu folgen. Neugierig kommst Du dieser
Aufforderung nach.
Du ziehst die Tür hinter Dir zu und schaust Fiarel erwartungsvoll an. "Was
ist los?"
Fiarel läßt sich auf einen der Stühle sinken und schaut Dich an. "Wir
ändern unsere Pläne, Meister Kallar."
"Inwiefern?"
"Wir bleiben vorerst hier im Hafen, halten uns aber zum Auslaufen bereit."
Zweifelnd hebst Du die Augenbrauen. "Ich dachte, wir wollten so schnell wie
möglich verschwinden, um uns aus den hiesigen Auseinandersetzungen heraus zu
halten."
Sie nickt. "Das hielt ich zuerst auch für das Beste. Aber jetzt hat mir der
Graf durch den Hafenmeister ein sehr interessantes Angebot unterbreiten
lassen."
Du bist verwundert. "Der Graf? Ich dachte, er wäre gar nicht in der Stadt,
sondern auf einer Jagd."
"Er scheint zurück zu sein", meint Fiarel. "Das wäre ich wohl auch, wenn
meine Stadt angegriffen würde."
"Darf ich fragen, was das für ein Angebot ist?"
"Dafür, daß wir hier bleiben, und im Fall einer Belagerung helfen, die Stadt
mit Lebensmitteln zu versorgen, erhalten wir eine großzügige Prämie, und, was
noch viel interessanter ist, Handelsvorzüge für die nächsten drei Jahre."
"Wir?"
"Er hat diese Angebot auch den anderen Kapitänen gemacht, und Orgaron ist
wohl bereit darauf einzugehen. Agellan anscheinend nicht."
"Das wundert mich nicht, es scheint ihm hier nicht besonders zu gefallen."
Ein Lächeln kannst Du Dir bei der Erinnerung an den kälteempfindlichen Mann
nicht verkneifen.
"Und ihr habt das Angebot auch angenommen?"
"Ja." Fiarel nickt bestätigend. "Es erschien mir sehr vorteilhaft. Zumal
wir kaum befürchten müssen, daß die Gwynnether es schaffen, uns am Auslaufen
zu hindern, falls es brenzlig werden sollte." Der Ausdruck in ihren Augen
zeigt Dir, daß an ihrem Entschluß wohl nichts mehr zu ändern ist. "Wir
werden also vorerst hier bleiben. Natürlich ist für Euch eine Beteiligung
an der Prämie drin, wenn Ihr mitmacht, Meister Kallar."
Während Du noch überlegst, was Du tun sollst, kommt Fiarel offensichtlich
schon der nächste Gedanke.
"Ach ja, der Hafenmeister hat mich gebeten, jemanden zum Grafen zu schicken,
der über unsere Ladekapazitäten und Reisezeiten Bescheid weiß. Würdet Ihr das
wohl übernehmen?"